Digital ist die Zukunft: Prävention und Nachsorge bei Diabetes – ein Gespräch mit Prof. Dr. Boris Schmitz
Im Rahmen des internationalen Diabetes Awareness Month November sprechen wir mit Prof. Dr. Boris Schmitz von der Universität Witten/Herdecke über Prävention, digitale Nachsorge und die Rolle moderner Forschung im Umgang mit chronischen Erkrankungen.
November ist der weltweite Diabetes Awareness Month – eine Zeit, die ganz im Zeichen der Aufklärung, Prävention und Unterstützung für Menschen mit Diabetes steht. Der Aktionsmonat erinnert an den Geburtstag von Dr. Frederick Banting, der 1921 das lebensrettende Insulin entdeckte, und ruft dazu auf, das Bewusstsein für Risikofaktoren, Früherkennung und moderne Therapieansätze zu stärken. Im Rahmen dieses besonderen Monats haben wir mit Boris Schmitz, Professor für Rehabilitationswissenschaften der Universität Witten/Herdecke gesprochen. Prof. Dr. Schmitz ist Principal Investigator des EU-geförderten Forschungsprojekts TIMELY, welches die patientenzentrierte digitale Nachsorge bei chronischen Erkrankungen wie der koronaren Herzkrankheit untersucht. Gemeinsam haben wir über die Bedeutung von Prävention, die Rolle moderner Forschung und die Chancen digitaler Monitoringlösungen im Umgang mit Diabetes diskutiert.
SEMDATEX: Angesichts der stetig wachsenden Zahl an Diabeteserkrankungen weltweit – und im Hinblick auf den Diabetes Awareness Month – welche Bedeutung hat Prävention aus Ihrer Sicht heute? Und wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Präventionsforschung in Deutschland?
Prof. Dr. Schmitz: Die Prävention ist von entscheidender Bedeutung, weil die Entstehung von Typ-2-Diabetes, welcher ja 95% der Fälle ausmacht, durch den Lebensstil beeinflussbar ist. Klar ist: Je früher wir ansetzen, desto mehr Fälle können verhindert werden und desto seltener entstehen Folgekrankheiten. In Deutschland wächst die Forschung, aber vor allem die Grundlagen der Entstehung von Folgeerkrankungen sind noch zu wenig untersucht. Ein wichtiges Feld ist auch die frühe Aufklärung und Sensibilisierung für einen gesunden Lebensstil. Das sollte bereits in der Schule beginnen. Bildung ist ein wichtiger Faktor in der Prävention und mehr Forschung im Bereich der Wissensvermittlung auch unter Berücksichtigung von Sprachbarrieren ist nötig.
Welche wissenschaftlich gesicherten Maßnahmen empfehlen Sie Menschen ohne Diabetes und ohne Herzprobleme, um durch einen gesunden Lebensstil das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes langfristig zu minimieren – und wo sehen Sie den zusätzlichen Nutzen digitaler Präventions- und Monitoring-Tools?
Die gute Nachricht ist, dass Maßnahmen, die Diabetes vorbeugen, auch anderen Erkrankungen vorbeugen. Hierzu zählen vor allem viel Bewegung, darunter Alltagsaktivität und Ausdauersport auch in Kombination mit Kraftsport. Hierdurch beugen wir auch Herz-Kreislauferkrankungen und anderen Erkrankungen vor. Die Ernährung sollte ausgewogen sein. Nichtrauchen und moderater Alkoholkonsum senken ebenfalls das Risiko. Bei den veränderlichen Faktoren wurde jüngst nochmals die Bedeutung des Body-Mass-Index (BMI) und des Nüchternblutzuckers für das Risiko, in den nächsten 10 Jahren an Diabetes zu erkranken, untermauert. Im Fachjournal JAMA Network Open berichten die Autoren anhand von Zahlen aus den USA, dass sich Typ-2-Diabetes recht zuverlässig anhand des BMI, Nüchternblutzucker, Alter und Geschlecht vorhersagen lässt. BMI und Nüchternblutzucker können die Menschen dabei im Allgemeinen sehr gut, vor allem durch Sport und Ernährung beeinflussen.
Inwiefern lassen sich moderne Konzepte aus der Rehabilitationsforschung auf die Primärprävention von Typ-2-Diabetes übertragen – insbesondere bei Risikogruppen, etwa Personen mit Bewegungsmangel oder Übergewicht?
Die Rehabilitation bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung (KHK) setzt auf strukturierte Programme zur Lebensstilintervention, Zielvereinbarungen und regelmäßiges Feedback – das funktioniert auch vorbeugend. Besonders wirksam sind kleine, messbare Schritte mit Coaching, z. B. schrittweise mehr Bewegung und alltagsnahe Ernährungsziele. Für Menschen mit Bewegungsmangel oder Übergewicht sind einfache Einstiege, soziale Unterstützung und digitale Begleitung besonders hilfreich. Wir gehen davon aus, dass digitale Programme wie Timely, die für Patienten mit KHK entwickelt wurden, auch in der Primärprävention eingesetzt werden können.
Immer häufiger wird auf den Zusammenhang zwischen Stoffwechsel, Entzündungsprozessen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hingewiesen – Bewegung und Stressmanagement gelten als Schlüsselfaktoren in der Prävention von Stoffwechselerkrankungen, korrekt?
Das ist richtig. Viele Menschen mit Typ-2-Diabetes weisen weitere Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht auf, die das Risiko für KHK gemeinsam mit Diabetes massiv erhöhen. Über lange Zeit erhöhte Blutzuckerspiegel schädigen die Blutgefäße und können so das Risiko für Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall erhöhen. Um diesen Prozessen entgegenzuwirken, ist wiederum Sport und Bewegung die beste Maßnahme. Vor allem in der Prävention ist es wichtig, die Menschen bei erhöhtem Risiko in entsprechende Programme einzuschließen, Wissen zu vermitteln und die Umstellung des Lebensstils zu unterstützen. Hierfür benötigt es mehr Programme für Kinder und Jugendliche und auch für Erwachsene.
Digitale Monitoringlösungen, wie sie SEMDATEX entwickelt, ermöglichen eine kontinuierliche Erfassung von Vitalparametern. Welche Chancen sehen Sie in solchen Technologien für Prävention, Therapie und Selbstmanagement bei Diabetes?
Das muss man differenzieren. In der Prävention können die bereits entwickelten Lösungen wir z.B. Timely*, welche Patienten dabei unterstützen, einen gesunden Lebensstil zu führen und sich viel und richtig zu bewegen, zeitnah eingesetzt werden. Im Bereich Therapie und Selbstmanagement von Diabetes-Patienten müssen diese Lösungen angepasst werden, was aber möglich ist. Vor allem Daten aus Blutzuckermessungen, egal ob manuell eingetragen oder im Idealfall automatisch übermittelt in Kombination mit Informationen über die Medikation, bieten hier viel Potential. Plattformen wie Timely dokumentieren Langzeitverläufe, melden kritische Werte und können Arzt und Patient informieren. In Kombination mit Bewegungsdaten und anderen Informationen ergibt sich ein ganzheitliches Bild, welches Therapie und Selbstmanagement gut unterstützen kann.
Welche Rolle spielen strukturierte Nachsorge-Programme oder digitale Gesundheitsanwendungen speziell für Menschen mit Diabetes, aber ohne bekannte Herzerkrankung, um frühzeitig gegen mögliche Spätschäden anzugehen und die Herzgesundheit gezielt zu erhalten?
Nachsorge betrifft ja die Zeit nach einer Rehabilitation. In dieser Phase sollen erreichte Ziele verfestigt und ein gesunder Lebensstil in den Alltag integriert werden. Hierbei können die meisten Patienten von Unterstützung profitieren. Dies kann eben auch gut digital erfolgen. Vor allem bei der Dokumentation von erreichten Zielen und dem Überwinden von Hürden, denen man begegnet, kann das gut helfen. Wenn man sich darauf einlässt, für die Zeit der Nachsorge ein geeignetes digitales Angebot zu nutzen und in Kombination mit einem Nachsorge-Assistenten konsequent umsetzt, dann sind die Chancen hoch, dass man eine Nachhaltige Veränderung erreicht. Wenn die definierten Ziele erreicht werden, reduziert dies das Risiko für Folgeerkrankungen. Wir am Lehrstuhl für Rehabilitationsforschung arbeiten zusammen mit Kliniken und Herstellern wie der SEMDATEX daran, entsprechende Angebote zu entwickeln und wissenschaftlich zu prüfen, um sie schlussendlich den Anwendern zur Verfügung stellen zu können.
*Timely ist ein EU-gefördertes Projekt im Rahmen von Horizon 2020 („Preventive Cardiology in the Hands of Empowered Patients“), Laufzeit 2021 - 2025. Ziel war die Entwicklung einer patientenzentrierten Plattform zur Früherkennung, Prävention und Intervention bei koronarer Herzkrankheit unter Einsatz von eHealth und künstlicher Intelligenz. Ab Januar 2021 wurde eine interoperable Plattform mit KI-gestützten Anwendungen, Dashboards und Entscheidungshilfen genutzt, um eine personalisierte Versorgung zu unterstützen. Auf Basis umfangreicher Datenbestände konnten Risiken bewertet, Therapieabweichungen erkannt und geeignete Interventionen vorgeschlagen werden.
Mehr dazu unter: https://www.timely-project.com/